Die Ansage ist klar: „Sammeln, nicht pflücken.“ Dann schreitet die Gruppe
bedächtig durch den parkähnlichen Naturgarten. An alten Obstbäumen
entlang, um Hochbeete herum und an der wilden Bienenwiese vorbei. Immer wieder
schauen, bücken, aufheben und in Augenschein nehmen. Kurz danach werden Äste, Blätter, Steine und vom Baum gefallene Birnen auf den großen Tisch unterm
Walnussbaum drapiert. Die Aufgabe: Domino aus Naturmaterialien. Es darf jedoch nicht gesprochen werden, was die neunköpfige Spielgemeinschaft ob der Auslegung
der Spielregeln sogleich in wildes Gestikulieren und Hantieren versetzt. Joana Obenauff
und Christin Niemetz haben das Spiel, bei dem Gleiches an Gleiches gelegt werden muss, in den Naturraum transportiert. Konkret in den riesigen Naturgarten des
Landhofs Neulingen in der Altmark, wo die freiberuflichen Dozentinnen
aus Magdeburg ein Teil der Gartentherapie-Ausbildung sind. Es gehe beim wortlos ausgeführten Natur-Domino um pragmatische Kreativität und nonverbale Teamarbeit, erklären sie unisono.
Deutschlandweit kann der Lehrgang nur an vier Orten absolviert werden. Einer davon ist der mehr als 150 Jahre alte Vierseithof im 70-Seelen-Dorf Neulingen, dessen Herzstück der 6.000 Quadratmeter große, ökologisch gepflegte Garten ist. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird er alle vier Wochen zum Bildungsort –
und auch zum Kraft- und Ruheraum, der Zufriedenheit schenkt und maximal sinnstiftend ist.
Im Grunde genügt ein Grashalm
Um den Tisch unterm schattigen Nussbaum haben sich acht Frauen und ein Mann versammelt. Sie stammen aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen und sind Lehrerin, Ergotherapeutin, Kinderkrankenschwester, Biologin oder Heilerziehungspflegerin. Auch eine aus den Niederlanden stammende Gärtnereibesitzerin ist dabei. Der sprichwörtliche „Hahn im Korb“ ist Landschaftsgärtner und Diakon. Sie alle wollen künftig gezielt gärtnerische Mittel therapeutisch einsetzen und sie beispielsweise im Umgang mit Kindern, Senioren,
dementen Personen, psychisch Erkrankten oder Menschen mit Behinderungen anwenden. Dafür absolvieren sie zumeist auf eigene Kosten ein Jahr lang berufsbegleitend die Ausbildung zur Gartentherapeutin beziehungsweise
zum Gartentherapeuten. 3.500 € zuzüglich Kost und Logis fallen für zwölf Themenmodule an zwölf Wochenenden an – das gesamte Gartenjahr wird bedient. Einige werden durch die Investitionsbank Sachsen-Anhalt gefördert. Theorie
und Praxis gehen von Freitag bis Sonntag gekonnt ineinander über. „Jedes Alter und jedes Krankheitsbild hat ein eigenes Bedürfnis an den Garten“, erklärt Joana Obenauff, die studierte Landschafts- und Freiraumplanerin, zertifizierte Natur- und Gartenberaterin und selbst Gartentherapeutin ist. Mit-Dozentin Christin Niemetz ist auf Ergo- und Handtherapie sowie Heilpädagogik spezialisiert. Sie haben ihrem gemeinsamen Bildungswochenende den Titel „Kinder im Garten“ gegeben, der gesamte Ausbildungslehrgang steht unter dem Motto „Helfende Gärten“. Er ist
von der Internationalen Gesellschaft für GartenTherapie als Weiterbildung anerkannt. Gärten in einem therapeutischen Kontext zu nutzen, ist für die erfahrenen
Dozentinnen eine Selbstverständlichkeit.
„Österreich war im deutschsprachigen Raum etwa um die Jahrtausendwende herum der Vorreiter. Seit Jahren wächst das Gebiet der Gartentherapie auch in Deutschland. Das ist alles sehr dynamisch.“ Es gehe darum, Menschen in ihrem seelischen und körperlichen Wohlbefinden zu unterstützen, berichten die Expertinnen. Das Alter sei egal, es brauche auch keinen riesigen Garten, um Mensch und Natur miteinander
zu verbinden. „Es reichen ein Balkonblumenkasten oder ein Lavendelsäckchen“, sagt Joana Obenauff. „Im Grunde genügt ein Grashalm, um gartentherapeutisch
arbeiten zu können.“ Zum Konzept der Gartentherapie gehören unter anderem der Wissensbereich Phytotherapie und die Planung und das Anlegen von
Gärten. Vor allem solche, die auf bestimmte Krankheitsbilder wie Demenz oder Traumata wirken. Auch Kreativität, Kunst und Sinnlichkeit sind Teil des Ausbildungsprogramms, das auf dem Landhof Neulingen von insgesamt fünf Dozentinnen vermittelt wird. Die neunköpfige Gruppe wird an diesem spätsommerlich lauen Wochenende noch Farben aus Naturmaterialien herstellen und eine eindrucksvolle Stimulation ihrer Geruchssinne erleben.
Zurück zu den Wurzeln
Petra Höfner ist eine der Teilnehmerinnen. Sie betreut und fördert in einer diakonischen Einrichtung für Menschen mit Behinderungen Frauen und Männer, die schon das Rentenalter erreicht haben. In den kreativarmen, ereignislosen und kräftezehrenden Lockdown-Zeiten wurde sie auf das Lehrgangsangebot aufmerksam. „Damals fehlten mir Farbe und Kreativität im Leben. Ich bin ein Naturmensch. Ich habe selbst einen großen, wilden Garten und mir gefiel, was während der Ausbildungszeit vermittelt wird“, erzählt die gebürtige Thüringerin, die jetzt im Jerichower Land wohnt. „Ich wollte mit der Aussicht auf diesen Lehrgang durch die schwere Corona-Zeit kommen und habe mich sofort beworben.“ Mit dem Wissen, den Erfahrungen und den Inspirationen möchte sie künftig „zurück zu den Wurzeln“ finden und möglichst viele Menschen daran teilhaben lassen. „Aber erst
muss ich das Zertifikat in der Tasche haben.“ Denn am Ende der berufsbegleitenden Ausbildung muss unter anderem eine thematisch freie Projektarbeit geschrieben und mittels einer Präsentation verteidigt werden. Der dreiköpfigen Prüfungskommission gehört auch Christa Ringkamp an. Sie und ihr Ehemann Karl-Heinz Müller besitzen und bewirtschaften den insgesamt rund ein Hektar großen 150 Jahre alten Landhof Neulingen nahe des Arendsees, der Teil des Projekts „Kreativorte im Grünen Sachsen-Anhalt“ ist. „Auf diesem Hof wurde nichts abgerissen und es kam auch nichts dazu“, sagt die Landschaftsarchitektin, die bis zum Frühjahr dieses Jahres 37 Jahre lang ein Büro in Berlin betrieben hat. „Allein durch die Anordnung der Gebäude entsteht Harmonie durch Spannung. „Dynamik eben.“ Früher war der Landhof einmal eine Gärtnerei. „Daher stammen noch die alten Obstgehölze“, weiß Christa Ringkamp,
die es beim Gespräch nicht versäumt, auf die hunderte Jahre alten Eichen hinzuweisen, die die Hofstelle umgeben, und auf die Kräuter, die überall wachsen. Spricht oder liest man in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus über Gärten, dann fällt immer irgendwann
auch der Name Christa Ringkamp. Seit dem Jahr 2000 hat die gebürtige Westfälin das touristische Gartenträume-Projekt aufgebaut und bis 2008 begleitet. Dann gründete sie den Verein gARTenakademie Sachsen-Anhalt, dessen Vorsitzende sie heute ist. Träger der aktuell laufenden Gartentherapie-Ausbildung ist die gemeinnützige Unternehmergesellschaft Neue Wege.
Netzwerken ist Bereicherung
Seit mehr als 15 Jahren ist die 1955 geborene Expertin eine Anhängerin der Bewegung „Natur im Garten“, die die Ökologisierung von Gärten und Grünräumen vorantreibt. In ihrem Ehrenamt als Geschäftsführende Präsidentin der „European Garden Association – Natur im Garten International“ geht sie voll auf, ebenso darin, die Hofstelle als Ort der Kultur, Kunst und Kreativität zu etablieren und bekannt zu machen. Daran hat auch die Gartentherapie ihren Anteil, ebenso wie das Gartencafé, der Marktladen, die Bibliothek, die vielen kleinen Kulturveranstaltungen und die Herberge. „Ich schätze hier in der Altmark vor allem die Netzwerkarbeit, die nicht Konkurrenz, sondern immer Bereicherung bedeutet.“
von SABRINA GORGES